Jana Konrad
Stress hat System

„Ich bin so im Stress!“ Was wir so schnell im Alltag und meist leicht genervt vor uns hinsagen, wird dem faszinierenden System in unserem Körper, welches uns hilft auf Veränderungen zu reagieren, einfach nicht gerecht. Das Stresssystem hält uns am Leben und es lässt uns wachsam sein, mit dem Ziel, Gefahren zu vermeiden. Bei höheren Anforderungen steigert es einfach unsere Leistungsfähigkeit.

Wir sind von der Natur so ausgestattet, dass wir mit Stress generell gut fertig werden. Weil zum Leben Stress dazugehört. Ein Problem wird Stress nur, wenn er nicht aufhört. Und, wenn er zudem negativ bewertet wird. Denn da spielt das Gehirn und unsere Fähigkeit zu Denken auch noch eine Rolle - nicht immer eine hilfreiche.

Wer Stress hat, sucht Schutz

Das Stresssystem im Körper löst eine Schutzreaktion auf eine Bedrohung von innen oder außen aus. Ein Stressor wirkt auf das System ein und bringt es aus seinem Gleichgewicht (Homöostase). Darauf reagiert das Nervensystem und löst als Stressantwort unterschiedliche körperliche Reaktionen aus. Diese dienen dazu, sich der Belastung anzupassen, und den Zustand des Ungleichgewichts am Ende wieder auszugleichen oder auf einem neuen Niveau einzupegeln (Allostase).

Ein Löwe? Kein Problem

Der Einfachheit halber kann man sich vorstellen, einem Löwen zu begegnen. In einer solchen Situation geht es ums Überleben und um nichts anderes, dementsprechend wird unser Gehirn reagieren. Die Gefahr wird über unsere Sinnesorgane wahrgenommen und dem Gehirn gemeldet. Die erste Reaktionskaskade erfolgt über das vegetative Nervensystem durch eine Aktivierung des Sympathikus, mit dem Ziel, den Körper für einen Kampf oder die Flucht bereit zu machen (Fight or Flight).

Es braucht jetzt Energie für Muskulatur, Herz und Gehirn! Infolge dieser Notwendigkeit werden über sympathische Nervenstränge Herz, Bronchien, Gefäße, Skelettmuskulatur, Stoffwechsel und andere Zielorgane angesteuert. Die überlebenswichtigen Funktionen werden über den Botenstoff Noradrenalin aktiviert, d.h. der Herzschlag wird kräftiger und schneller, der Blutdruck steigt, die große Muskulatur wird besser durchblutet, es wird vermehrt Glukose durch die Leber freigesetzt und die Pupillen weiten sich. Optimale Voraussetzung der Gefahr zu begegnen. Auch das Immunsystem wird in Bereitschaft versetzt, indem die Entzündungskaskade über den Transkriptionsfaktor NfkB angestoßen wird, denn schließlich ist es möglich, sich beim Kampf oder auf der Flucht Verletzungen zuzuziehen.

Häufig in den Hintergrund tritt, dass durch den Sympathikus gleichzeitig andere Funktionen, die in der akuten Stressantwort keine Rolle spielen, gehemmt werden, wie beispielsweise die Darm- und Nierentätigkeit. Das ist problemlos möglich, da diese Stressantwort über den Sympathikus nur auf etwa 10 Minuten ausgelegt ist.

Die zweite Reaktionskaskade erfolgt etwas verzögert über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse). Das führt dazu, dass nach den ersten 10 bis 15 Minuten aus der Nebenniere Cortisol ins Blut abgegeben wird.

Cortisol, ist das Stresshormon - wobei der bessere Name ‚Lebenshormon‘ wäre. Cortisol sorgt als Gegenspieler zum Schlafhormon Melatonin u.a. auch dafür, dass wir in der Früh wach werden und Energie für den Tag bekommen.

Im Falle einer Stressreaktion hat es ebenso die Aufgabe weiterhin Energie zu mobilisieren, um die insgesamt energetisch sehr teure Stressantwort aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig leitet es das Immunsystem an den Ort, an den es gebraucht wird und leitet insgesamt auch wieder das Ende der Reaktion ein. Wenn der Cortisolspiegel eine gewisse Höhe erreicht, gibt es eine negative Rückkopplung, die HPA-Achse wird wieder gehemmt und das Spektakel ist vorbei. Bis dahin ohne bleibende Probleme für den Organismus.

Und wenn es noch nicht vorbei ist?

Problematisch wird es dann, wenn der Stress immens hoch ist, denn dann wird zu viel Cortisol frei und die Reaktion kann nicht adäquat gehemmt werden. Oder aber, wenn der Stressor chronisch vorhanden ist. Die imaginäre Situation mit dem Löwen sollte schnell in die eine oder andere Richtung gelöst werden.

Wenn der Stressor aber eine Hypothek, eine Beziehung oder eine Arbeitsstelle ist, löst sich das Problem naturgemäß nicht in 10 bis 20 Minuten. Dann sprechen wir von chronischem Stress und das ist die Art von Stress, die zu Problemen führt. Zum einen muss die Nebenniere ständig Cortisol produzieren, was sie über die Maßen beansprucht und erschöpfen kann und zum anderen können Zellen unempfindlicher gegen Cortisol werden.

Der Bedarf nach zusätzlicher Energie steigt und Heißhungerattacken könnten die Folge sein. Andererseits werden die Organe, die während einer akuten Stressreaktion gehemmt werden, nun langfristig eingeschränkt. Dazu gehört der Darm, die Nieren, aber auch die kleine Muskulatur, die beispielsweise unsere Wirbelsäule stützt. Auf hormoneller Ebene bedeutet dies, dass die Ausschüttung anderer Hormone, die nicht der Stressantwort dienen unterdrückt wird (Schilddrüsenhormone, Sexualhormone)[1].

Die Ursache liegt dann aber nicht in den jeweiligen Organen, sondern am ständig aktivierten Stresssystem. Über die Darm-Hirn-Achse gibt es auch direkte Kommunikation mit dem Verdauungstrakt[2] . Es werden hohe Mengen an Energie benötigt, also wird die Darmwand etwas durchlässiger. Das erhöht zwar das Risiko für Infektionen und Entzündungen, denn mehr Stoffe, die sonst ausgesiebt würden, landen im Blut. Auf der anderen Seite kann Zucker, Salz und Wasser in höheren Mengen aufgenommen werden[3]. Zusätzlich wird sich langfristig sogar die Population im Darm an die Situation anpassen. Es werden die Bakterien stärker werden, die besonders gute Nahrungsverwerter sind.

Sogar unser Kurzzeitgedächtnis ist betroffen, denn die hohen Cortisolspiegel bewirken eine reduzierte Funktion des Hippocampus[4]. Ganz zu schweigen vom Immunsystem, dessen zelluläre Immunantwort durch Cortisol langfristig eine Dämpfung erfährt[5].

So weit gehen also die Auswirkungen von chronischem Stress und jede Therapie wird an ihre Grenzen stoßen, wenn die ursprüngliche Ursache keine Beachtung findet.

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Ab wann ist nun Stress negativ?

Eine Stressreaktion kann sowohl durch psychische (neurogene) als auch physische (systemische) Ursachen ausgelöst werden. Der Mechanismus und Ablauf ist grundsätzlich derselbe, bei psychischem Stress wird jedoch zusätzlich unser ‚Angstzentrum‘ eingeschaltet. Je mehr eine Situation hier als Gefahr eingestuft wird, desto generalisierter die Reaktion. Je mehr man sich in der Lage fühlt, über entsprechende Ressourcen zur Lösung zu verfügen, desto kontrollierbarer wird die Stressantwort[6] . Und hier liegt auch eine große Chance. Neue Informationen und verständliche Erklärungen können Patienten helfen aus der Stressspirale zu entkommen und ihre Gesundheit wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Was bedeutet das in der Praxis?

Jede Art von Stress kann die gleiche körperliche Reaktion hervorrufen und langfristig zu den gleichen schädlichen Auswirkungen führen. Oder anders ausgedrückt: Die gleiche Situation kann je nach ihrer Bewertung durch den Patienten, entweder zu starker körperlicher Stressreaktion oder eben auch nur zu minimaler Aktivierung dieses Systems führen. Werden Betroffene darin unterstützt, die Situation neu zu bewerten, sich ihrer Ressourcen bewusst zu werden, erhalten sie die Chance, die Reaktion abzumildern oder zu stoppen und damit den entstandenen Symptomen entgegenzuwirken.

Was ist der Weg zu mehr Resilienz?

Der erste Schritt ist mit Sicherheit das Bewusstsein über das, was mit dem eigenen Körper passiert[7]. Kaum ein Stressor lässt sich von heute auf morgen entfernen, aber häufig ist es eine Summe von Stressoren, die zum Problem führt. Vielleicht lässt sich die Hypothek nicht auflösen, aber andere Stressoren, die ebenso die Stressachsen aktivieren, wie Rauchen, Hektik, Nachrichten, Handy, eine sitzende Tätigkeit, Schwankungen im Blutzuckerspiegel, Toxine in der Nahrung, etc. lassen sich verändern, so dass die Gesamtbelastung leichter wird und eine Neubewertung durch ein weniger gestresstes Gehirn möglich wird. Viele diese Verstärker resultieren zwar aus chronischem Stress, wenn das aber verstanden und neu bewertet wird, kann es sein, dass man so den Teufelskreis wieder durchbricht.

Eine Ernährung, die nicht ihrerseits Stress auslöst, etwa durch zu viel Zucker, und im besten Fall den Darm unterstützt, kann das System langfristig entlasten. Bewegung baut Stresshormone im Blut ab und kann so für Entspannung sorgen. Bestimmte Pflanzenstoffe wie Salbei oder Baldrian können ebenfalls dazu beitragen, eine direkte Linderung der Symptome herbeizuführen.

Resilienz ist individuell

Zusätzliche Maßnahmen, die die eigene Resilienz fördern sind hochgradig individuell. Natürlich ist alles was den Parasympathikus, also den physiologischen Gegenspieler stimuliert nützlich, denn es schafft eine ausgleichende Komponente, die einen flexibler auf Stressoren reagieren lässt.[8] Gemeint sind Interventionen, wie Musik, Atemübungen, Massagen, Yoga, Meditation, Gurgeln, Singen, Kältereize, Wärmereize, Augenübungen, Koordinationsübungen, Kampfsport oder Bewegungsspiele. Am besten funktioniert etwas, was sich der Einzelne vorstellen kann, regelmäßig zu tun, ohne dass der Gedanke daran bereits die nächste Stressreaktion auslöst.

Besonders spannend: Evolutionär bekannte Reize, also solche Stressoren, die schon immer den Menschen begleitet haben, wie Hunger, Durst, Hitze oder Kälte können einen großen positiven Einfluss auf unsere Stresstoleranz haben.[9]

Wenn sich dann etwas findet, das dazu noch Freude bereitet, sind die ersten Schritte in Richtung Heilung und Selbstwirksamkeit getan.


  • Über die Autorin: Jana Konrad ist Head of Education am Institut Ascend
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Literaturangaben:

  1. Assad S, Khan HH, Ghazanfar H, Khan ZH, Mansoor S, Rahman MA, Khan GH, Zafar B, Tariq U, Malik SA. Role of Sex Hormone Levels and Psychological Stress in the Pathogenesis of Autoimmune Diseases. Cureus 2017; 9: e1315.
  2. Farzi A, Fröhlich EE, Holzer P. Gut Microbiota and the Neuroendocrine System. Neurotherapeutics : the journal of the American Society for Experimental NeuroTherapeutics 2018; 15: 5–22.
  3. Punder K de, Pruimboom L. Stress induces endotoxemia and low-grade inflammation by increasing barrier permeability. Frontiers in immunology 2015; 6: 223.
  4. Krugers HJ, Lucassen PJ, Karst H, Joëls M. Chronic stress effects on hippocampal structure and synaptic function: relevance for depression and normalization by anti-glucocorticoid treatment. Frontiers in synaptic neuroscience 2010; 2: 24. 
  5. Morey JN, Boggero IA, Scott AB, Segerstrom SC. Current Directions in Stress and Human Immune Function. Current opinion in psychology 2015; 5: 13–17.
  6. Lazarus RS. Emotion and Adaptation. Oxford University Press, Oxford 1994.
  7. Lee E, Lee H. Disaster awareness and coping: Impact on stress, anxiety, and depression. Perspect Psychiatr Care 2019; 55: 311–318.
  8. Koelsch S, Boehlig A, Hohenadel M, Nitsche I, Bauer K, Sack U. The impact of acute stress on hormones and cytokines, and how their recovery is affected by music-evoked positive mood. Scientific reports 2016; 6: 23008.
  9. Ruiz-Núñez B, Pruimboom L, Dijck-Brouwer DAJ, Muskiet FAJ. Lifestyle and nutritional imbalances associated with Western diseases: causes and consequences of chronic systemic low-grade inflammation in an evolutionary context. The Journal of nutritional biochemistry 2013; 24: 1183–1201.

Beitragsbild:

Foto von engin akyurt auf Unsplash


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