
Psychische Erkrankungen sind weltweit auf dem Vormarsch. WHO-Zahlen aus dem Jahr 2017 zufolge leiden weltweit rund 800 Millionen Menschen an einer psychischen Störung – das entspricht 10 % der Weltbevölkerung. Diese Zahlen sind dramatisch. Zunehmend erkennt auch die etablierte Wissenschaft, dass unser bisheriges Verständnis von psychischen Erkrankungen große Lücken aufweist. Andernfalls hätten die Milliarden Dollar, die in den pharmazeutischen Betrieb fließen, eine Verbesserung der Lage bewirken müssen.
Ein prominentes Beispiel für ein neues Verständnis psychischer Krankheiten liefert der Harvard-Psychiater Christopher M. Palmer mit seinem jüngst erschienenen Buch „Psychische Erkrankungen neu verstehen – Warum Stoffwechsel und Mitochondrien die Schlüsselrolle für unsere psychische Gesundheit spielen“.
Der Untertitel verrät es bereits: Sowohl der Stoffwechsel als auch die Leistungsfähigkeit der Mitochondrien sind eng mit dem Lebensstil der Betroffenen verknüpft. Es verwundert daher nicht, dass ein Großteil des Buches wichtige Empfehlungen aufgreift, die auch die Akademie für menschliche Medizin in der Vergangenheit immer wieder formuliert hat, um psychische Erkrankungen zu verhindern oder einzudämmen.
Lebensstilfaktoren haben einen enormen Einfluss auf die psychische Gesundheit
Zu den praktischen Schritten, auf die wir mittels unseres Lebensstils Einfluss nehmen können, zählen:
- Schlaf und zirkadianer Rhythmus
- Ernährung, Darmgesundheit und Fasten
- Vermeidung von Toxinen (Drogen, Alkohol etc.)
- Körperliche Aktivität
- Soziale Kontakte und Stressreduktion
In unserem Themenkanal Psyche & Mentale Gesundheit finden Sie dazu bereits zahlreiche Beiträge. Auch Palmer beschreibt in seinem Buch psychische Erkrankungen als multifaktoriell. In der Praxis zeigt sich, dass nie ein einzelner Einfluss mit Sicherheit zu einer psychischen Erkrankung führt; zudem ist nicht bei allen Betroffenen derselbe Auslöser zu finden. Es gibt zwar nachweisbare starke Zusammenhänge zwischen den genannten Lebensstilfaktoren und der psychischen Gesundheit, doch Kausalitäten sind oft schwer zu belegen. Deshalb gilt: Möglichst viele Faktoren ins Gleichgewicht bringen und so die Risikofaktoren minimieren.
Sind psychische Erkrankungen in Wahrheit Stoffwechselstörungen des Gehirns?
Trotz der scheinbaren Unübersichtlichkeit der Einflussfaktoren formuliert Palmer in seinem Buch eine klare These, die die vielfältigen Sekundärursachen psychischer Erkrankungen zusammenführt: Psychische Erkrankungen, so der US-amerikanische Wissenschaftler, sind in Wirklichkeit Stoffwechselstörungen des Gehirns. Genauer gesagt handelt es sich um Funktionsstörungen der Mitochondrien.
Diese kleinen Organellen werden als „Kraftwerke“ der Zelle bezeichnet, da sie für die Energieproduktion verantwortlich sind. Sie wandeln Nährstoffe wie Glukose in Adenosintriphosphat (ATP) um – die Hauptenergiequelle für zelluläre Prozesse. Mitochondrien haben ihre eigene DNA, was darauf hindeutet, dass sie einst eigenständige Organismen waren. Sie sind für die Atmung und den Stoffwechsel der Zelle unverzichtbar und spielen eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Zelltodes und des Zellwachstums.
Laut Palmer ist längst erwiesen, dass bei Menschen mit psychischen Störungen die Mitochondrien im Gehirn nicht voll funktionsfähig sind, was wiederum zu den verschiedensten Ausprägungen psychischer Erkrankungen führt, die wir in steigender Zahl beobachten.
Die bisher dominierenden neurochemischen Theorien gehen hingegen davon aus, dass viele psychische Störungen, wie Depressionen oder Schizophrenie, durch ein Ungleichgewicht von Neurotransmittern wie Serotonin, Dopamin oder Noradrenalin verursacht werden. Klassische Behandlungsansätze zielen daher oft darauf ab, die Konzentration dieser Neurotransmitter im Gehirn zu regulieren, etwa durch Antidepressiva oder Antipsychotika. Oft mit wenig Erfolg.
Eine Stoffwechselstörung des Gehirns betrifft jedoch die grundlegenden zellulären Prozesse, insbesondere die Energieproduktion. Wie gezeigt, können hier Lebensstilinterventionen einen weit größeren Einfluss auf die Genesung oder Prävention haben als die direkte Beeinflussung der Neurotransmitter durch entsprechende Medikamente.
Psychische Erkrankungen holistisch betrachten
Als AMM sehen wir uns damit erneut von „höchster Stelle“ bestätigt. Zwar sollte jede individuelle Behandlung von psychischen Erkrankungen immer mit dem eigenen Arzt des Vertrauens abgestimmt werden, doch die Arbeit des Harvard-Professors zeigt, dass an einem holistischen Verständnis psychischer Erkrankungen auch in einer der angesehensten Universitäten der Welt kein Weg mehr vorbeiführt.
Erinnert sei dabei auch an Prof. Felice Jacka, die mit dem Mood & Food Center an der australischen Deakin-Universität das weltweit erste Institut für Ernährungspsychiatrie gegründet hat und den enormen Einfluss unserer Nahrungsauswahl auf die psychische Gesundheit erforscht. Auch unsere AMM-Expertin Annett Oehlschläger widmete sich in ihren Arbeiten umfangreich der Frage, welchen Einfluss insbesondere die richtige Zufuhr von Mikronährstoffen, aber auch weitere Lebensstilfaktoren, auf die psychische Gesundheit haben. Im Zuge dieser Arbeit sind bereits zwei Bücher und ein Onlinekurs entstanden:
Es ist erfreulich, zu sehen, dass auch an den etablierten Universitäten und unter Psychiatern ein holistisches Verständnis psychischer Erkrankungen mehr und mehr Einzug erhält. Dies macht Hoffnung auf einen Wandel in der medizinischen Kultur, den wir dringend benötigen. Natürlich widmen wir uns als AMM weiterhin diesem Ziel – und heißen dabei jeden neuen Mitstreiter willkommen.
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