Die ist ein Gastbeitrag unseres Netzwerkpartners Jörg Fuhrmann, freiraum-institut
Ob bei übermäßigem Stress, Traumata, ADS, Autismus, Burnout oder auch Schlafstörungen – ein erweitertes Bewusstsein über unser Vagusnerv-System kann uns helfen, Körper und Seele ins Gleichgewicht zu bringen. Im Folgenden wird die spannende Erforschung unseres Nervensystems nachgezeichnet und aufgezeigt, welche Therapieansätze sich daraus ableiten lassen.
Stephen W. Porges, Professor für Psychiatrie und Biomedizintechnik, beschäftigte sich mit der janusköpfigen Doppelrolle des Vagus. Nach seiner polyvagalen Theorie [1] wird zwischen einem hinteren (dorsalen) und vorderen (ventralen) Vagusnerv unterschieden. Porges identifiziere mit seinem erweiterten Verständnis des vegetativen Nervensystems, neben Anspannung und Entspannung, noch weitere menschliche Reaktionsmuster wie eben die Wahrnehmung von Sicherheit, die soziale Interaktionsfähigkeit und auch die Bereiche der Notfallprogramme wie Shutdown-Zustände und Dissoziation.
Mit den Erkenntnissen und Theorien von Porges begann sich ab 1994 (v.a. ab den 2000er-Jahren) zunehmend eine überaus hilfreiche Landkarte abzuzeichnen, aus der sich eine gänzlich andere Haltung und Herangehensweise im Umgang mit den genannten Phänomenen ergibt. Das damit verbundene Grundverständnis ist jedoch bis dato, selbst in Hochschul-Fachkreisen, im deutschsprachigen Raum nach wie vor noch relativ unbekannt.
Wie sich Stress gemeinsam mit anderen regulieren lässt
Mit seinen weiteren Untersuchungen erkannte Porges, dass die drei Schaltkreise des autonomen Nervensystems dynamisch und adaptiv auf erlebte Ereignisse und Kontexte reagieren, die als als sicher, gefährlich oder lebensbedrohlich wahrgenommen werden. Dies gilt für Menschen wie für Säugetiere gleichermaßen.
Im Gegensatz zu anderen Wirbeltieren brauchen wir Menschen und unsere tierischen Verwandten wohlwollende Artgenossen, um stressreiche Körperzustände optimal regulieren und überleben zu können [2]. Derartige Erlebnisse von Ko-Regulation stärken nicht nur dauerhaft die neuronalen Pfade zwischen dem Präfrontalkortex und dem limbischen System, sondern verhelfen auch zu einer ausgeglicheneren Großhirnaktivität. Befinden wir uns hingegen in überwältigendem Stress und sind weder in der Lage diesen selbst zu regulieren noch Ko-Regulation von außen zu erfahren, neigt die rechte Hemisphäre zu Katastrophendenken und Flashbacks, während die linke Gehirnhälfte mit scharfen Urteilen und letztlich Scham aufwartet. Chronische Scham ist wiederum ein wesentlicher Faktor, der Beziehungen, Erfolg, Zufriedenheit und Gesundheit oftmals unmöglich macht.
Diese wichtigen Erkenntnisse und daraus resultierende alltägliche Übungen gilt es bei Coaching und Therapie gezielt einzubringen. Doch beschränkt sich dies keineswegs nur auf den therapeutischen Bereich sondern gilt im Grunde für alle – beruflichen wie privaten – Bereiche, in denen Menschen miteinander, agieren.
Wenn ein Mensch in die Lage versetzt wird, die Grundstruktur seines Autonomen Nervensystems und der dort abgespeicherten (Notfall-)Programme zu verstehen und zusätzlich lernt, sein Nervensystem gezielt zu steuern und zu regulieren sowie seinen Mitmenschen ko-regulierend zur Seite zu stehen, erhält er mitunter die Möglichkeit eine völlig andere Bewusstseinsebene zu erreichen. Dies ist freilich ein sehr facettenreicher Prozess, der sowohl gezielte Top-Down-Prozesse, also vom Bewusstsein ausgehende Handlungen, als auch situatives Bottom-Up-Gewahrsein, also Körperwahrnehmungen vor allem im Kontext entsprechender Lebenssituationen, beinhaltet [3].
Mit Prof. Stephen Porges auf neuen Wegen der Klang-Therapie
Die diesbezügliche Klangbehandlung nach Porges verwendet daher eine speziell gefilterte Musik, um das mit dem Hören verbundene neuronale Netzwerk, speziell auf den Frequenzbereich der menschlichen Stimme, zu trainieren. Dies wiederum stimuliert den ventralen Vagusnerv und so den Zustand, in welchem wir uns sicherer und ruhiger fühlen können. Dies bildet vor allem in der Verarbeitung von Trauma, Schock, Stress, Ohnmacht und Gefühlen von Überwältigung die wesentliche Basis.
Speziell modifizierte Musikwiedergabelisten helfen dabei, das Nervensystem quasi zu „entlüften“ und neu zu kalibrieren und anschließend eine „Homöostase“ zu erreichen. Diese kann sich anschließend auf viele Bereiche (Zufriedenheit, innere Ruhe, Gelassenheit, Glücksgefühle, Erfolg, Standing, Beziehungsqualität, Entspannung, Schlaf, Verdauung etc.) des eigenen Lebens ausdehnen und entsprechend positiv bemerkbar machen.
Dazu ergänzend hat Prof. Stephen Porges ein nicht invasives, dreiphasiges Klangprotokoll – das sogenannte „Safe and Sound Protocol (SSP)“ – wissenschaftlich entwickelt. Dessen Wirksamkeit wurde in einer Vielzahl von Studien nachgewiesen, insbesondere in zwei klinischen Studien mit Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung [4], bei ADS/ ADHS [5], chronischem Schmerz [6] und in der Regulation von Trauma-Folgen [7]. Die Studienteilnehmer zeigten statistisch signifikante Verbesserungen bei Emotionaler Kontrolle, Verhaltensorganisation, Klang-/ Hörempfindlichkeit und verbessertes Zuhören sowie verbesserte soziale Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit:
- Sie fühlten sich sicherer, ruhiger, geerdeter und belastbarer.
- Sie fühlten sich weniger gereizt, ängstlich und überfordert.
- Sie dachten klarer, waren aufmerksamer und kreativer.
- Sie dachten weniger starr, unorganisiert und waren ablenkbar.
- Der Kontakt erfolgte offener, aufrichtiger und ganzheitlicher.
- Die Interaktion lief weniger vorsichtig, distanziert und konfrontierend ab.
Dies hilft uns wiederum zu lernen, wie wir uns angesichts der Herausforderungen des Lebens leichter und beständiger reguliert und zentriert fühlen können. Ferner hilft es uns dabei schneller aus dysregulierten Sympathikus-Zuständen oder dorsalen Vaguszuständen auszusteigen und schneller in einen ausgeglichenen Zustand zurückzukommen. Mit zunehmender Ausdehnung jener Qualitäten sind dann bspw. zwischenmenschliche Kontakte, spirituelle Praktiken und therapeutische Prozesse nicht mehr derart starke Trigger, dass sie mitunter direkt in überwältigende Zustände führen, sondern es bildet sich eine Art Boden als nervliches sowie soziales Auffangnetz.
Fazit: Aus diesen Erkenntnissen resultieren nicht nur oftmals großartige neue Perspektiven und Möglichkeiten, die für viele andere Menschen scheinbar „normal“ sind, sondern es bildet sich mitunter auch erstmalig eine Art Basis für die Entfaltung des eigenen, bis dato ungelebten, Potenzials: privat wie beruflich. Das wünsche ich ebenso den Lesern und Leserinnen dieses Artikels.
Dieser Text ist eine gekürzte Variante. Die vollständige Abhandlung inklusive aller Quellenangaben finden Sie hier: Der Selbstheilungsnerv in Aktion – warum ein erweitertes Bewusstsein über das Vagusnerv-Systems Unterstützung bei Stress, Workaholismus, Trauma, ADS, Autismus, Burnout, CFS & Schlafstörungen bieten kann
Weitere spannende Informationen finden Sie auf der AMM-Netzwerkpartnerseite von Jörg Fuhrmann.
Quellenangaben:
- ↑ Porges, Stephen, W. 1995, Orienting in a defensive world: Mammalian modifications of our evolutionary heritage – a Polyvagal Theory, Psychophysiology, 32, 301-318
- ↑ Porges, Stephen, W., 2017, Die Polyvagaltheorie und die Suche nach Sicherheit, Probst
- ↑ Porges, Stephen, W./ Dana, Deb, 2018, Clinical Applications of the Polyvagaltheory – The Emmergence of Polyvagal informed Therapies, W. W. Norton
- ↑ Porges, Stephen, W. (u.a.), 2014, Reducing Auditory Hypersensitivities in Autistic Spectrum Disorder: Preliminary Findings Evaluating the Listening Project Protocol, Frontiers in Pediatrics
- ↑ Heilman, Keri, J., 2016, The Listening Project at the ADD Centre and Biofeedback Institute of Toronto, ClinicalTrials.gov Identifier: NCT02680730
- ↑ Porges, Stephen, W., 2017, Examining the Effects of Processed Music on Chronic Pain, ClinicalTrials.gov Identifier: NCT03083977
- ↑ Heilman, Keri, J., 2014, The Listening Project: Tuning Into Change, ClinicalTrials.gov Identifier: NCT02064257